Wie stark wird sich aus Ihrer Sicht die Arbeit von Steuerberatern durch den Einsatz von KI verändern?
Fritz Esterer: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da sich die Arbeit von Steuerberatern von Land zu Land sehr unterscheidet. So ist der Steuerberater in Frankreich und Italien eher ein Steuerjurist, der bestimmte steuerliche Probleme löst und juristische Fragen beantwortet. Seine Arbeit wird sich signifikant verändern, weil er durch den Einsatz von KI und Legal Tech Recherchetätigkeiten für die Entscheidungsvorbereitung automatisiert durchführen und sich damit überwiegend auf die Beratung fokussieren kann. Im case-law-basierten Rechtsbereich Australiens wurde beispielsweise von einem Steuerberater ein KI-System namens Ailira entwickelt, das Stellungnahmen und Entscheidungen vorbereitet, indem es auf eine umfangreiche Case-Datenbank zurückgreift.
In Deutschland erstellt der Steuerberater die Steuererklärungen für die Mandanten und ist derjenige, der die Deklarationspflichten erfüllt. Zudem übt er auch eine Beraterfunktion aus, bei der er den Mandanten in steuerjuristischen Fragen berät. Hingegen ist der Steuerberater in Brasilien und allen weiteren lateinamerikanischen Ländern eher ein Tax Accountant, der hauptsächlich Steuererklärungen erstellt.
Die Einsatzmöglichkeiten für KI hängen also stark davon ab, ob man sich mehr in einem systematischen oder in einem Case-Law-basierten Rechtsbereich befindet.
Konkret wird sich die Arbeit von Steuerberatern in der Gestalt verändern, dass repetitive Tätigkeiten durch KI ersetzt werden. Je mehr repetitive Tätigkeiten durch die Kombination von Technologie, Tools und KI ersetzt werden, desto größer wird die Veränderung bei der Zusammensetzung der Steuerfunktionen und der Tätigkeit des Steuerberaters sein.
Das heißt die Arbeitsplätze fallen nicht weg, sondern der Steuerberater kann sich auf andere Dinge fokussieren und wird mehr der Berater?
Fritz Esterer: Definitiv. So wird z. B. ein deutscher Steuerberater wieder mehr zum Berater und weniger zum Deklarationserfüller. In anderen Ländern wird sich sicherlich die Rolle des Steuerberaters durch Legal Tech auch verändern. Ich wage die Prognose zu treffen, dass sich in Ländern, die sehr steuerjuristisch geprägt sind und ein Case-Law-System anwenden (etwa die USA, Australien oder Kanada), der Bedarf an Steuerjuristen für einfache vorbreitende Tätigkeiten reduziert.
Welche Erwartungen knüpfen Sie an den Einsatz von KI?
Fritz Esterer: Der Wert von KI und die beiden Hauptvorteile sind, dass einerseits mehr Compliance-Sicherheit gewonnen wird. Dadurch können Haftungsrisiken für Unternehmensverantwortliche deutlich reduziert werden. Das gilt insbesondere für Steuergebiete wie Umsatzsteuer, Zoll oder Verrechnungspreise, wo Massendaten verarbeitet werden und die Erfüllung banalster Pflichten hohe Risikopotentiale bergen. Andererseits ist es durch KI möglich, unternehmerische Entscheidungen viel besser vorzubereiten, weil auf mehr Daten zurückgegriffen werden kann, die für den Menschen in diesem Umfang einfach nicht zu erfassen sind.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verknüpfung aller Meldepflichten an die Finanzbehörden. Unternehmen müssen jedes Jahr Dutzende von Themen an die Finanzbehörden melden, die auch teilweise miteinander zusammenhängen, weil sie aus den gleichen Daten generiert werden. Hier geht es unter anderem um Bauabzugssteuer, Quellensteuern, die Anmeldung von Künstlern, Intrastatmeldungen, Meldungen von Betriebsstätten, grunderwerbssteuerpflichtige Vorgänge oder Lohnsteuermeldungen. Durch die Verknüpfung der verschiedenen Meldepflichten können Unternehmen erhebliche Kosteneinsparungen erzielen. Außerdem ist es möglich, eine noch größere Konsistenz bei den Meldungen zu erreichen.
Könnte es auch eventuell dahin gehen, dass Finanzbehörden ein permanenter Zugriff auf Daten gewährt wird?
Fritz Esterer: Das hängt ganz von der Bereitschaft der Finanzverwaltung der verschiedenen Länder ab, mit Unternehmen in einer völlig neuen Form zu kommunizieren.
Der Austausch zwischen Finanzbehörden und Steuerpflichtigen, im Sinne eines zeitnahen und permanenten Datenaustausches, der wiederum eine gewisse Sicherheit für Unternehmen bringt, wäre das Wunschziel.
Dann sind wir zwar beim gläsernen Steuerpflichtigen, aber dieser wird meines Erachtens mit der Digitalisierung kommen. Darüber muss sich jedes Unternehmen im Klaren sein.
In welchen Steuergebieten bestehen aus Ihrer Sicht kurzfristig die größten Potentiale für den Einsatz von KI-Technologien?
Fritz Esterer: Ganz klar dort, wo es um große Datenmengen geht, wie bei Zoll, Umsatzsteuer und Verrechnungspreise. Hier können Anomalieerkennungs- und Process-Mining-Methoden angewendet werden. Auch bei allen Abzugssteuern sind mit KI große Erfolge möglich. Hingegen sehe ich bei den Ertragssteuern zumindest kurzfristig eher weniger Potentiale, denn da sind die verfügbaren Datenmengen zu gering. Wenn dann eher punktuell im Bereich der Quellensteuern.
Kurzfristig kann KI in puncto Fehleranalyse, Compliance-Sicherheit und Kostenreduzierung helfen. So geht es im Zollbereich insbesondere um Analyse von Abweichungen gegenüber bestimmten Regeln, die durch Freihandelsabkommen oder Zollwert-Tabellen gegeben sind. Bei der Umsatzsteuer steht vor allem die automatisierte Prüfung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen im Fokus. Für diese Fälle lassen sich sehr schnell entsprechende KI-Lösungen in Unternehmen implementieren.
Was sind aktuell die größten Hindernisse und praktischen Limitierungen für den Einsatz von KI-Technologien im Steuerbereich?
Fritz Esterer: Zum einen sind es objektive Themen wie die fehlende Datenverfügbarkeit. Zum anderen sind es aber auch subjektive Gesichtspunkte wie die fehlende Bereitschaft, sich mit KI zu beschäftigen, die hier eine Rolle spielen.
Da KI im Steuerbereich für viele Unternehmen quasi noch Neuland ist und bislang keine umfangreichen Track-Records vorliegen, muss an dieser Stelle auch ein bisschen Pioniergeist bei den betreffenden Unternehmen mit dabei sein.
Nicht zu vergessen ist der Kostenaspekt, der häufig ein limitierender Faktor ist. KI gibt es nicht “for free“.
In anderen Abteilungen sind Unternehmen in Sachen KI oftmals weiter. Ein Klassiker ist z. B. die Supply Chain. Dort wird sehr viel in KI investiert. Das gilt übrigens auch für das Accounting & Controlling. Aber nur wenige Unternehmen haben KI-Ressourcen bisher auf das Thema Steuern gesetzt. Eine entsprechende Notwendigkeit ist noch nicht im Bewusstsein der Entscheidungsträger angekommen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Transferleistungen in Unternehmen getätigt werden müssen. Denn was bereits für die Supply Chain entwickelt wurde, kann vielleicht auch auf den Steuerbereich angewendet werden.
Die Steuerfunktion darf also nicht mehr isoliert in einem Unternehmen betrachtet werden, um KI einsetzen zu können?
Fritz Esterer: Steuerfunktionen müssen immer stärker in die allgemeinen Unternehmensprozesse integriert werden. Sobald Unternehmen diesen Bewusstseinsschritt geschafft haben, wird es deutlich leichter sein, KI-Lösungen im Steuerbereich zum Einsatz zu bringen. Beispielsweise sollte allen bewusst sein, dass das Rechnungswesen einen geschlossenen Prozess bis hin zur Steuererklärung hat. Aus der Buchhaltung werden die Daten gezogen, die Rückstellungen werden berechnet und schließlich die Steuererklärung erstellt.
Welche Vorrausetzungen müssen erfüllt sein, um KI im Steuerbereich zu implementieren?
Fritz Esterer: Damit Unternehmen AI Ready werden, ist eine Vorarbeit zwingend notwendig. D. h. es müssen Daten aufbereitet und strukturiert werden und Prozesse standardisiert sein. Nur dann kann der Einsatz von KI erfolgen. Dabei sind die Steuerfunktionen vor allem auch selbst gefragt, diese Vorrausetzung zu schaffen. Dies erfordert allerdings auch Ressourcen und entsprechendes Know-how.
Steuerberater müssen künftig viel mehr in Prozessen denken - dafür sind sie aber meist nicht ausgebildet. Das ist ein großes Manko und darum gibt es einen enormen Bedarf an IT-orientieren Steuerberatern. Die Nachfrage nach entsprechenden Trainingsmöglichkeiten und Weiterbildungen oder generell einer Ausbildung für das Thema ist deshalb enorm. Es wird definitiv einen neuen Berufstypus geben, den Digital Tax Advisor.
Daher ist das auch die vierte Kernkompetenz der WTS auf die wir setzen.
Wenn wir jetzt an die Umsetzung denken, wie könnte aus Ihrer Sicht eine erfolgreiche Einführung von KI aussehen?
Fritz Esterer: Wie schon erwähnt, geht es zunächst darum, alle globalen Steuerprozesse zu erfassen und dann zu standardisieren. Unternehmen, die bereits ein steuerliches internes Kontrollsystem (Steuer IKS) eingeführt haben, sind hier klar im Vorteil. In diesem Rahmen haben sie bereits Steuerprozesse aufgenommen, Kontrollen definiert und ggf. die Organisation angepasst. Grundsätzlich ist es sehr aufwendig, die notwendige Datenverfügbarkeit für KI-Lösungen herzustellen. Unternehmen sollten genau wissen, welche Daten sie für welchen KI-Anwendungsbereiche benötigen. Ist diese Voraussetzung erfüllt, müssen die Daten schließlich in einem so genannten Tax Data Lake gesammelt und mittels Data-Analytics und Business Intelligence-Spezialisten strukturiert werden, damit sie anschließend mit KI-Methoden ausgewertet werden können.
Ich glaube es ist wichtig ist, dass man nicht den Fehler macht, KI alleine in den Ring zu werfen, sondern es geht um Digitalisierung. Und im Bereich der Digitalisierung von Steuerfunktionen wendet man dort wo es sinnvoll ist auch KI-Methoden an.