Eigentlich ist das europäische Koordinierungsrecht in der Sozialversicherung und die in diesem Kontext auszustellende A1-Entsendebescheinigung eine echte Erfolgsgeschichte. Verhältnismäßig klar und einfach wird auf Basis von nur wenigen Vorschriften festgestellt, welches Sozialversicherungsrecht welchen Staates auf einen Arbeitnehmer bei grenzüberschreitender Tätigkeit Anwendung findet. Und zwar nach dem Motto „ganz oder gar nicht“, das heißt, für alle vorhandenen Sozialversicherungszweige (in Deutschland also die gesetzliche Renten-, Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung) kann nur das Recht eines EU-Staates gelten.
Aufgrund der hohen Bestandskraft einer ausgestellten A1-Bescheinigung – diese ist grundsätzlich für alle beteiligten Personen, Unternehmen, Behörden und sogar Gerichte bindend, siehe EuGH-Urteile vom 27.4.2017 (A-Rosa-Fall, C-620/15), vom 6.2.2018 (Absa-Fall, C-359-16) und vom 6.9.2018 (Alpenrind u.a. – C-527/16) – wird also rechtssicher eine doppelte Beitragszahlung in der Sozialversicherung vermieden. Eigentlich, denn hinter dieser positiven Grundidee versteckt sich ein echtes Bürokratiemonster.
Keine zeitliche Bagatellgrenze
Immer wieder wird ungläubig dieselbe Frage gestellt: „Muss für eine kurze Dienstreise – zum Beispiel für einen Tag – ins europäische Ausland wirklich eine A1 beantragt werden?“ Da die einschlägigen EU-Verordnungen keine zeitliche Bagatellgrenze vorsehen, ist die Antwort so einfach wie frustrierend: „Ja, kein Auslandseinsatz ohne A1- Bescheinigung.“
Umso erstaunlicher ist es, dass diese Antragspflicht in vielen Unternehmen noch immer unbekannt ist – gilt dieser Grundsatz doch schon seit den 70er-Jahren. Bereits die damalige EWG-VO 1408/71 sah vor, dass Entsendebescheinigungen (damals noch „E101“ genannt) unabhängig von der Dauer des Auslandseinsatzes zu beantragen sind.
Dementsprechend sind auch die Praxisprobleme nicht neu – auch damals war es Unternehmen oftmals nicht möglich, im Vorfeld einer kurzfristig anberaumten Dienstreise den erforderlichen Antrag rechtzeitig zu stellen. Seinerzeit reagierte die Politik ganz unbürokratisch und ermöglichte den Sozialversicherungsbehörden (mit dem „Beschluss 125“ der EG-Verwaltungskommission vom 17.10.1985) die Ausgabe von Blankovordrucken, sodass die Unternehmen die E101 eigenhändig – also ohne weitere Involvierung einer Behörde – für eine Entsendung von bis zu drei Monaten ausstellen und so den Verbleib des Arbeitnehmers in der heimatlichen Sozialversicherung attestieren konnten.
Mit Einführung der EG-VO 883/2004 zum 1.5.2010 verlor dieser Beschluss seine Gültigkeit und der administrative Albtraum kehrte zurück. Aufgrund von zahlreichen Beschwerden betroffener Unternehmen wies das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales daher am 14.3.2011 darauf hin, dass „grundsätzlich für jede vorübergehende Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat eine Bescheinigung A1 bei dem zuständigen Träger im Voraus zu beantragen ist. Bei kurzfristig anberaumten Geschäftsreisen und bei sehr kurzen Entsendezeiträumen von bis zu einer Woche kann es jedoch zweckmäßig sein, auf einen Antrag auf Ausstellung der Bescheinigung A1 zu verzichten.“ Allerdings widersprach die diesbezüglich zuständige deutsche Sozialversicherungsbehörde (die Deutsche Verbindungstelle Krankenversicherung – Ausland –DVKA) dieser großzügigen Auslegung postwendend.
Zunahme von Kontrollen
Die Frage, ab wann eine Entsendebescheinigung zu beantragen ist, stellt sich also seit vielen Jahren – warum der derzeitige Hype um die A1-Bescheinigung? Dies hängt wohl vor allem mit der Zunahme der Kontrollen im Zusammenhang mit den Meldepflichten für entsandte Arbeitnehmer aufgrund der EU-Durchsetzungsrichtlinie 2014/67/EU zusammen. Die dort manifestierten Maßnahmen sollen die Ziele der Entsenderichtlinie 96/71/EG durchsetzen. Zum einen die Beseitigung von Hindernissen für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den EU-Staaten und zum anderen die Wahrung der Arbeitnehmerrechte. Auch wenn alle 28 EU-Staaten (beziehungsweise 27 nach dem Brexit) die Vorgaben dieser Richtlinie unterschiedlich in nationales Recht transferiert haben, wird doch fast immer die Vorlage der A1- Bescheinigung zum Nachweis des anzuwendenden Sozialversicherungsrechts gefordert.
In einigen EU-Staaten finden bereits gezielt Überprüfungen von Geschäftsreisenden statt (insbesondere in Frankreich und Österreich) und es gibt auch schon einige Fälle, in denen empfindliche Bußgelder verhängt wurden, zum Beispiel in Kroatien, Griechenland, Frankreich oder Österreich.
Der deutsche Gesetzgeber hat dem Umstand, dass die Unternehmen eine sehr hohe Anzahl von A1-Bescheinigungen beantragen müssen, Rechnung getragen und die Pflicht zur elektronischen Beantragung – bestenfalls direkt aus dem Gehaltsabrechnungsprogramm – ab dem 1.1.2019 eingeführt. Auch die heutige Schnelllebigkeit wurde insofern berücksichtigt, dass die zuständigen Sozialversicherungsbehörden (dies kann je nach Versicherungsstatus des Arbeitnehmers die zuständige Einzugsstelle, die Deutsche Rentenversicherung oder die Arbeitsgemeinschaft berufsständischer Versorgungseinrichtungen sein) die A1-Bescheinigung innerhalb einer gesetzlichen Frist von drei Werktagen ebenfalls elektronisch auszustellen haben.
Bündelung bei Mehrfachbeschäftigung
Da also feststeht, dass bei jeder grenzüberschreitenden Tätigkeit in der EU eine A1- Entsendebescheinigung zu beantragen ist, stellt sich die Frage nach der Umsetzung in der Praxis. Zunächst sollte geprüft werden, ob bei den Arbeitnehmern, die regelmäßigen in den/die gleichen EU-Staat(en) Dienstreisen unternehmen, die Möglichkeit nur einer A1-Bescheinigung aufgrund der sogenannten „Mehrfachbeschäftigung“ nach Art. 13 EG-VO 883/2004 besteht.
Diese Vorschrift setzt voraus, dass der Arbeitnehmer gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, wobei unbedeutende Tätigkeiten nicht berücksichtigt werden. Dies sind solche, die dauerhaft ausgeübt werden, hinsichtlich des Zeitaufwands und des wirtschaftlichen Ertrags jedoch unbedeutend sind. Als Indikator wird im „Praktischen Leitfaden der europäischen Verwaltungskommission zum anwendbaren Recht in der EU, EWR und in der Schweiz“ vorgeschlagen, Tätigkeiten, die weniger als fünf Prozent der regulären Arbeitszeit des Arbeitnehmers ausmachen, als unbedeutende Tätigkeiten zu betrachten.
Auf dieser Basis sollte der Arbeitnehmer daher bei 250 vereinbarten Arbeitstagen pro Jahr mindestens zwölf Tage pro Jahr in dem anderen EU-Staat tätig sein. Diese Regelung ermöglicht es in der Praxis vielen Arbeitnehmern, eine A1-Bescheinigung für einen unbefristeten Zeitraum zu beantragen und sich so die zahlreichen Anträge pro einzelne Dienstreise zu ersparen (siehe Kasten).
Bei allen anderen Arbeitnehmern, die nicht regelmäßig in den/die gleichen EUStaat(en) Dienstreisen unternehmen oder schlicht seltener grenzüberschreitend tätig sind, bleibt es beim dargestellten administrativen Aufwand – eine A1 pro Dienstreise. Als Fazit ist festzustellen, dass formalrechtlich bei jeder Dienstreise ins EU-Ausland eine A1 zu beantragen ist. Aufgrund des hohen administrativen Aufwands ist nicht auszuschließen, dass Unternehmen Dienstreisen ins europäische Ausland verbieten oder zumindest vermeiden – dies wäre dann gleichbedeutend mit einer Einschränkung der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU. Das sozialversicherungsrechtliche Koordinierungsrecht in der EU bedroht also in der Praxis eine der vier im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) normierten Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes.
Hoffen auf Entbürokratisierung
Zum Schluss ein kleiner Lichtblick: Am 23.11.2018 hat das Europäische Parlament umfangreiche Vorschläge zur Überarbeitung der EG-VO 883/2004 sowie der Durchführungsverordnung 987/2009 unterbreitet (A8-0386/2018). Die Vorschläge sehen unter anderem vor, bei Geschäftsreisen von der Antragspflicht einer A1 abzusehen (Änderungsantrag 73 – Art 12.1 (c) neu – A8-0386/2018: „Ein förmlicher Antrag dieser Art ist nicht erforderlich, wenn die Arbeit eine Geschäftsreise betrifft.“). In einem weiteren Änderungsantrag (Änderungsantrag 123 zur Verordnung (EG) Nr. 987/2009, Artikel 14 – Absatz 4 a (neu)) wurde der Begriff der „Geschäftsreise“ einschränkend, aber nicht abschließend, wie folgt ausgelegt: „... eine vorübergehende Tätigkeit im Zusammenhang mit den Geschäftsinteressen des Arbeitgebers ausschließlich der Erbringung von Dienstleistungen oder der Auslieferung von Waren, etwa die Teilnahme an internen und externen Geschäftstreffen, Konferenzen und Seminaren, Verhandlungen über geschäftliche Vereinbarungen, Unternehmensverkäufe oder Marketingtätigkeiten, die Durchführung interner Prüfungen oder von Prüfungen bei Kunden, die Auslotung von Geschäftsmöglichkeiten oder der Besuch und Erhalt von Schulungsmaßnahmen.“ Die Umsetzung dieser Vorschläge würde zu einer deutlichen Erleichterung in der Praxis führen – allerdings würde die Bewertung einer Auslandstätigkeit als „Geschäftsreise“ im Sinne der oben genannten Definition sicherlich zu Auslegungsstreitigkeiten und letztendlich sogar zu Gerichtsverfahren vor dem EuGH führen.
Eine pragmatische und praxisnahe Lösung könnte unter Berücksichtigung der vom EuGH aufgestellten Grundsätze zur unbedeutenden Tätigkeit bei Mehrfachbeschäftigungen (siehe oben: Fünf-Prozent-Grenze) gefunden werden: So könnte eine Ausnahme von der Antragspflicht einer A1 für Tätigkeiten von weniger als zwölf Tagen Dauer pro Jahr und EU-Staat normiert werden. Denn im Zweifel ist es einfacher, die Aufenthaltsdauer als die Art der ausgeführten Tätigkeit zu überprüfen, und ein Missbrauch ist aufgrund der sehr kurzen Frist nahezu ausgeschlossen.
Wie oben erläutert diskutieren die zuständigen EU-Gremien derzeit über die Abschaffung der A1-Antragspflicht bei Dienstreisen. Es ist zu erwarten, dass eine diesbezügliche Einigung noch in dieser Legislaturperiode erzielt wird und der bürokratische Wahnsinn damit schon im Juli 2019 ein Ende haben könnte.
Beispiel für Mehrfachbeschäftigung
Ein Vertriebsmitarbeiter eines deutschen Unternehmens mit dem Vertriebsgebiet Deutschland und Beneluxstaaten (also Niederlande, Belgien, Luxemburg) ist regelmäßig circa drei bis vier Tage pro Woche in Deutschland, ein Tag in den Niederlanden sowie alle zwei Wochen einen Tag in Belgien und alle drei Wochen einen Tag in Luxemburg tätig: Bei einer Jahresbetrachtung kommt er somit auf circa 40 Arbeitstage in den Niederlanden, circa 20 Arbeitstage in Belgien und circa 15 Arbeitstage in Luxemburg. Hier kann ein Antrag auf A1 nach Art. 13 EG-VO 883/2004 (sogenannte „Mehrfachbeschäftigung“) unbefristet für die drei betroffenen Länder beantragt werden – anstelle von circa 75 Anträgen für jede einzelne Dienstreise in die Niederlande, nach Belgien und Luxemburg. |