Steigende rechtliche- und betriebsinterne Compliance- Anforderungen, einhergehend mit stetiger Globalisierung, bedingen immer komplexere Geschäftsprozesse. Hinzu kommen Kostendruck und Fachkräftemangel, welche kaum mehr zu kompensieren sind. Dies führt letztlich dazu, die Prozesse zu standardisieren, zu optimieren und letztendlich zu digitalisieren.
Beispiel aktueller Digitalisierungsbedarf aus DAC6:
Prozesse können sich aufgrund innerer oder äußerer Einflüsse, wie z.B. die Einführung der Meldepflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltungen (DAC6) grundlegend verändern. Die daraus resultierenden Anforderungen an die Datenbeschaffung, die Landesgrenzen überschreitende Koordination und die Transparenz gegenüber den Behörden verlangen geradezu nach einem effizienten Prozess und bei großen Volumina einer technischen Lösung. Anderenfalls wäre der operative Aufwand enorm und der Nachweis der Prozesssicherheit kaum zu führen.
Um mögliche Digitalisierungslösungen oder Automatisierungspotentiale erkennen und etablieren zu können, müssen die einzelnen Prozesse genau untersucht werden. Auf Basis dieser Validierung entsteht ein Überblick über alle relevanten Prozesse nach vorgegebenen Kriterien, z.B. Transaktionsvolumen, Standardisierungsgrad, KPI´s, Schnittstellen, Prozessrisiken, Stakeholder, Verantwortung etc. Dabei ist zu beachten, dass der ganzheitliche Blick auf das Unternehmen nicht verloren geht und keine isolierte, beispielsweise auf eine Abteilung bezogene, Betrachtungsweise erfolgt.
Zur Prozessaufnahme eignen sich insbesondere Produkte, die den neusten Notationsstandard BPMN 2.0 bieten, da hier das breiteste Spektrum an Prozess-Gestaltungsmöglichkeiten geboten wird. Herkömmliche Darstellungen, meist auf Basis von MS PowerPoint und MS Visio, werden zunehmend abgelöst, da sie die notwendige Informationstiefe nicht bereitstellen können. Ergänzend dazu wird die Abbildung von komplexen Entscheidungen und ihren Parametern mithilfe des Modellierungsstandards DMN 1.1 eine immer wichtiger werdende Rolle einnehmen. Dieser dient zur Abbildung von Regelungen aus Steuergesetzen und Richtlinien. Eingebettet im Prozess, können Entscheidungen simuliert und wesentliche Informationen, wie z.B. Prozessrisiko, Personalbedarf und Prozesskosten detailliert und realitätsnah abgeleitet werden.
Alle dokumentierten Prozesse werden in einem sog. Prozesshaus zusammengeführt. Um das Prozesshaus übersichtlich zu gestalten wird es in verschiedene Ebenen organisatorisch und thematisch untergliedert. Durch die Bündelung der Prozesse entsteht eine zentrale Wissensplattform, die für den fachlichen Anwender abrufbar ist und stetig erweitert werden kann Zudem lassen sich daraus IT-Anforderungen ableiten und Digitalisierungspotentiale identifizieren. Als Nebeneffekt kann das Prozesshaus für die Verfahrensdokumentation und die ISO-Zertifizierung herangezogen werden.
Dabei vereint das Prozesshaus folgende Komponenten:
- Dokumentation der Prozesse
Zur Prozessdokumentation gehört eine Prozessmodellierung in BPMN 2.0, welche einfache und komplexe Zusammenhänge übersichtlich und nachvollziehbar abbildet. Hierzu werden die einzelnen Arbeitsschritte als eine Abfolge von Aufgaben modelliert, die jeweils eindeutig einem Prozessbeteiligten zugewiesen werden. Diese Folge von Arbeitsschritten kann mit weiteren Informationen, beispielsweise zu verwendeten IT-Systemen angereichert werden. Neben der Modellierung auf Basis einer zuvor erfolgten Prozessaufnahme (durch Fragbögen, Interviews, Work Shadowing, etc.) gibt es das Process Mining. Mit Hilfe von Process Mining können Aktivitätsprotokolle von Systemen, z.B. SAP, automatisch ausgewertet und daraus Prozessmodelle abgeleitet werden. Das Process Mining kann auch verwendet werden, um einen konventionell modellierten Prozess daraufhin zu überprüfen, ob er der gelebten Praxis entspricht.
- Veröffentlichung / Bereitstellung der Prozess
Alle Beteiligten haben, entsprechend der ihnen zugewiesenen Berechtigung, die Möglichkeit gemeinsam und zeitgleich an Prozessen zu arbeiten, sie zu kommentieren und Anpassungen vorzunehmen. Es entsteht ein übersichtlicher Workflow, der alle Parteien mit einbindet und so eine effiziente Aufnahme von Prozessen ermöglicht.
- Automatisierte Prozesssteuerung
Prozessteile, die nicht in anderen Systemen ablaufen, können über eine automatisierte Prozesssteuerung teilautomatisiert werden. Dazu werden Eingabeformulare erstellt und einzelnen Prozessschritten zugeordnet. Zusätzlich können sogenannte Web Services auf Daten in Drittsystemen zugreifen und diese nach Bearbeitung wieder transferieren um Doppeleingaben zu vermeiden. Die Aufgaben werden über ein zentrales Dashboard verwaltet. Zusätzlich kann auch Robotic Process Automation (RPA) mit in den Prozess eingebunden werden, sodass repetitive Arbeitsschritte für den Anwender entfallen.
- Compliance Management
Alle Risiken, die in einem Prozessablauf auftreten können, werden identifiziert, qualifiziert und an konkrete Arbeitsschritte geknüpft. Den zugeordneten Risiken werden im Anschluss entsprechende Kontrollen/Maßnahmen zugeordnet mit dem Ziel einer prozessbasierenden Risiko-Kontroll-Matrix. Manuelle Steuerungen von Kontrollen sollten weitestgehend vermieden werden, da es nicht nur zeitintensiv, sondern auch fehleranfällig ist. Kontrollmaßnahmen können zu einem großen Teil mit einer automatischen Prozesssteuerung elektronisch gesteuert und dokumentiert werden. Detektive Kontrollen lassen sich auf BI (Business Intelligence) Plattformen in Kombination mit regelbasierten Auswertungen automatisieren.
- Zentrale Bibliothek
Durch das Aufsetzen einer zentralen Bibliothek wird es ermöglicht Elemente aus Prozessmodellierung, Organisationsstruktur sowie Compliance-Management zu administrieren. Die hinterlegten Elemente und Erläuterungen sind in den Geschäftsprozessen verlinkt und müssen bei Anpassungsbedarf nicht einzeln geändert werden.
- Reporting
Aus den gewonnenen Informationen im Prozesshaus können verschiedenste Reports zu unterschiedlichsten Zwecken konfiguriert werden, z.B. Risiko-Kontroll-Matrix, Prozesskostenreport, Schnittstellenanalyse, GoBD Verfahrensdokumentation (Prozesshandbuch) oder Ressourcenbedarfsplanung. Das Reporting sollte in die automatische Prozesssteuerung integriert werden, sodass aktuelle Aufstellungen (Aufgabestatus, SLA´s oder durchgeführte Kontrollen) Bestandteil der Reports sind.
Auf lange Sicht stellt sich die Frage, wie man als Unternehmen mit der zunehmenden Digitalisierung Schritt halten kann und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das richtige Fundament für die Zukunft zu legen. Der Automatisierungsgrad von Routinearbeiten wird in naher Zukunft so hoch sein, dass diesbezüglich kein weiterer Eingriff erfolgen muss. Eine größere Problemstellung wird die Automatisierung von komplexen Entscheidungen und Einzelfallwürdigungen darstellen, sodass sich hierauf zu fokussieren ist. Um sich den Herausforderungen der Zukunft stellen zu können, ist ein digitales Prozesshaus unverzichtbar.
Benötigte Digitalisierungsprojekte binden zunächst Kapital und Ressourcen und führen damit zu einem Mehraufwand. Erst nach Abschluss des Projekts und der Etablierung der umgesetzten Maßnahmen lassen sich die gewünschten Effizienzsteigerungen und Erleichterungen im Arbeitsablauf realisieren. Daher wird häufig die Umsetzung zu schnell vorangetrieben, welche ohne intensive Betrachtung der aktuellen Prozesse und damit verbundener Einbindung der operativ arbeitenden Mitarbeiter, nicht zum Zielprozess passt. Eine rechtzeitige und laufende Einbindung der operativen Ebene und aller relevanten Stakeholder ist daher die Basis des Projekterfolgs, auch da Prozesse oft anders gelebt werden als es vorgegeben wurden. Aus diesem Grund sollte immer eine vorangegangene Standardisierung der betroffenen Prozesse erfolgen. Diese stellt sicher, dass der Prozess im gesamten Unternehmen einheitlich durchgeführt wird. Dazu ist eine detaillierte Aufnahme der Prozessschritte, der Prozessbeteiligten sowie der verwendeten Daten und IT-Systeme essentiell.