Mit seinen Urteilen vom 01.12.2022 (C-141/20 und C-269/20) stufte der EuGH die deutschen Regelungen zur umsatzsteuerrechtlichen Organschaft teilweise als unionsrechtswidrig ein, bestätigte aber auch die Rechtmäßigkeit der Folgewirkungen, die sich aus dem Vorliegen einer Organschaft ergeben. Unklarheiten resultierten hingegen aus den Aussagen des EuGH zur umsatzsteuerlichen Behandlung von Leistungen zwischen den Gesellschaften des Organkreises, sog. Innenumsätze (vgl. TAX WEEKLY # 43/2022). Mit zwei Entscheidung hat der BFH nun auf diese EuGH-Urteile reagiert.
Mit dem Beschluss vom 26.01.2023 (V R 20/22 (V R 40/19)) legt der BFH dem EuGH – im unmittelbaren Anschluss an dessen Entscheidung – erneut die Frage zur umsatzsteuerrechtlichen Behandlung von sog. Innenumsätzen vor. Nach gefestigter BFH-Rechtsprechung und der unstreitigen Finanzverwaltungsauffassung sollen solche Umsätze zwischen den Mitgliedern einer Organschaft gerade deshalb nicht der Umsatzsteuer unterliegen, weil die Organgesellschaft als "unselbständiger" Teil im Gesamtunternehmen des übergeordneten Organträgers angesehen wird. Zweifel an dieser Betrachtung ergeben sich für den BFH aber daraus, dass der EuGH die Organgesellschaft als selbständig ansieht und die Organschaft nach seiner Rechtsprechung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führen darf. Letzteres könnte – verglichen mit einer Besteuerung von Innenumsätzen – zu bejahen sein, wenn der die Leistung von der Organgesellschaft beziehende Organträger nicht oder nur anteilig zum Vorsteuerabzug berechtigt ist.
Mit der anderen Folgeentscheidung, seinem Urteil vom 18.01.2023 (XI R 29/22 (XI R 16/18)), hält der BFH zunächst fest, dass die sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ergebende Steuerschuldnerschaft des Organträgers für die Umsätze der Organschaft – nunmehr durch den EuGH bestätigt – als unionsrechtskonform anzusehen ist. Die weiteren Anforderungen des EuGH an die "Geeignetheit" des Organträgers als Vertreter des Organkreises, die Willensdurchsetzung bei den Organgesellschaften sowie den Ausschluss der Gefahr von Steuerverlusten, entsprechen der derzeitigen Rechtslage und Anwendungspraxis in Deutschland.
Der BFH ändert aber seine Rechtsprechung zur finanziellen Eingliederung im Hinblick auf das Kriterium der Willensdurchsetzung. Nach Auffassung des EuGH ist zur Verwirklichung der finanziellen Eingliederung in Fällen einer Mehrheitsbeteiligung des Organträgers an der Organgesellschaft nicht auch noch zusätzlich eine Stimmrechtsmehrheit erforderlich. Der EuGH widerspricht damit der derzeitigen Finanzverwaltungsauffassung, vgl. Abschn. 2.8 Abs. 5 UStAE. Dennoch hält der BFH diesbezüglich grundsätzlich an seiner bisherigen Auffassung insoweit fest, als die Organschaft eine Mehrheit der Stimmrechte des Organträgers an der Organgesellschaft erfordert. Im Hinblick auf die vom EuGH skizzierte Willensdurchsetzung ohne Stimmrechtsmehrheit stellt der BFH aber klar, dass die Merkmale der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederung nicht gleichermaßen stark ausgeprägt sein müssen. Trete eines der drei Merkmale einer Eingliederung weniger stark in Erscheinung, soll dies der Annahme einer Organschaft nicht entgegenstehen, sofern sich die Eingliederung deutlich bei den anderen beiden Merkmalen zeigt. Bezogen auf die mit der finanziellen Eingliederung verbundene Willensdurchsetzung erscheint es dem BFH daher gerechtfertigt, eine Mehrheitsbeteiligung trotz Stimmrechten von nur 50 % als lediglich schwächer ausgeprägte finanzielle Eingliederung anzusehen, wenn sie durch eine Personenidentität in den Geschäftsführungsorganen von Organträger und Organgesellschaft und somit eine besonders stark ausgeprägte organisatorische Eingliederung ausgeglichen werde. Der Organträger könne seinen Willen bei der laufenden Geschäftsführung der Organgesellschaft weiterhin durchsetzen und mit Hilfe seiner Stimmrechte in Höhe von 50 % eine abweichende Weisung durch die Gesellschafterversammlung verhindern.
Die Organschaft bleibt somit auch im Anschluss an diese Urteile eine streitbefangene Materie, angereichert durch augenscheinlich immer wieder neue Fragestellungen, die aus der Rechtsprechung von BFH und EuGH resultieren. Inwiefern die vom BFH explizit abgelehnte Organschaft zwischen Schwestergesellschaften (ohne Einbeziehung des gemeinsamen Gesellschafters) der Auffassung des EuGH entspricht, wonach der Unionsgesetzgeber die Mehrwertsteuergruppe nicht nur den Einheiten vorbehalten wollte, die in einem Unterordnungsverhältnis zum Organträger der betreffenden Unternehmensgruppe stehen, bleibt fraglich.
Sollte der EuGH im Zuge des Vorlageverfahrens entscheiden, dass Innenumsätze entgegen der ständigen BFH-Rechtsprechung steuerbar sind, hätte dies weitreichende Folgen. Umsatzsteuerrechtlich dient die Organschaft als Gestaltungsinstrument für Unternehmer, die nicht zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt sind (z.B. Banken und Versicherungen). Nichtabziehbare Vorsteuerbeträge lassen sich bislang für derartige Unternehmen dadurch vermeiden, dass sie mit Dienstleistern Organschaften begründen, so dass die bezogenen Leistungen nicht steuerbar sind.